Mit den Jungs auf Helgoland

Es ist inzwischen 7 Uhr und wir haben die ersten Jungs samt Eltern kennengelernt. Die Knaben sind im Alter zwischen 7 und 10 Jahren und haben jeder einen „Beipackzettel“ dabei, auf was sie alles allergisch sind – Gräser und Hausstaubmilben sind die häufigsten, Gewürze (Paprika) die problematischsten. Aber in der Jugendherberge hat man mir versichert, dass das kein Problem sei, wir bekämen nur gesalzenes Essen, das wir selber nachwürzen können. Vier der Jungs kommen aus der Gegend um Hamburg, die anderen drei aus den neuen Bundesländern. Sie kennen sich untereinander genauso wenig, wie ich Rüdiger vor Reiseantritt gekannt hatte.

Kichernd werden wir gecheckt und für komisch befunden. Das schafft eine spontane Verbindung zwischen den Jungs, die sie glatt vergessen lässt, dass sie nun für drei Wochen von ihren Eltern getrennt sein werden. Steve ist so schnell eingestiegen, um sich den besten Platz in dem gecharterten Kleinbus zu suchen, dass seine Eltern ihm kaum noch eine Verabschiedung abringen können. Ja, Tschüss…

Fröhlich geht es im Bus gen Cuxhaven. Die Jungs klären ihre gegenseitigen Interessen und sind erstmal miteinander beschäftigt, sodass wir uns nicht groß um sie kümmern müssen. Auf halbem Wege erklären sie unisono, dass sie mal müssen. Mangels Raststätte hält der Busfahrer gleich am nächsten Maisfeld, bevor sie sich einpullern. Ich blicke auf den Rücken von sieben Jungen samt Rüdiger, die wie die Orgelpfeifen nebeneinander ins Maisfeld strullen und frage mich, auf was ich mich da eingelassen habe. Aber nun ist’s zu spät…

Die Überfahrten nach Helgoland sind berühmtberüchtigt. Wir haben glücklicherweise Sonnenschein und eine ruhige See. Die Jungs rennen kreuz und quer übers Schiff und untersuchen alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Da sie nicht verloren gehen können, lassen wir sie laufen. Ab und zu schauen sie mal an unserem Tisch vorbei, beißen in ihre mitgebrachten Butterbrote oder kramen Süßigkeiten und Limopäckchen aus ihren Rucksäcken hervor.

Das Ausbooten ist eine große Gaudi. Rechts und links packen uns zwei kräftige Matrosen unter die Arme und reichen uns an die Kollegen unten im Börteboot weiter. Zack, Zack, einer nach dem anderen. Dann schippern wir Helgoland entgegen.

Unser Gepäck wird zur Jugendherberge gebracht, wir müssen nur hinlaufen. Auf dem Schiff wirkte unser Haufen noch wie eine homogene Masse, aus der ab und zu mal einer ausbrach. Jetzt an Land zeigen sich bereits die ersten Eigenwilligkeiten. Der achtjährige Siegfried z. B. kommt aus einer Akademikerfamilie und ist nicht dumm, dafür aber ein absoluter Bewegungslegastheniker. Das weiß ich nach dem halben Weg zur Jugendherberge.

Die ihm zur Verfügung stehende Energie zur Bewegung seiner Beine hat er, wie’s scheint, beim Rennen auf dem Schiff aufgebraucht. Er ist sooo müde und will nicht mehr laufen. Erst jammert er nur rum, dann bleibt er immer mehr zurück und muss mühsam angetrieben werden, einen Fuß vor den anderen zu setzen. So bummeln wir Richtung Jugendherberge. Schließlich hat er seine allerletzte Energie aufgebraucht und muss jetzt und sofort schlafen. Saft- und kraftlos lässt er sich auf den Boden sinken und legt sich zum Schlafen mitten auf den Spazierweg, den Kopf auf die Arme gebettet. Die Welt ist wieder gut – für Siegfried.

Alle Überredungsversuche, dass wir gleich da sind und er nicht mehr weit laufen muss, helfen nicht. Ihn hochzuziehen noch weniger. Zieh mal jemand einen nassen Sack auf die Beine! Kaum hab ich ihn oben, lässt er sich wieder fallen. Sehr zum Amüsement der Helgoländer Tagestouristen, die an uns vorbeispazieren. Einige werfen mir aber auch vorwurfsvolle Blicke zu, die Zweifel an meinen pädagogischen Fähigkeiten zum Ausdruck bringen.

Rüdiger, der schon mal Zirkuskinder bei den Hausaufgaben betreut hat, ist auch keine große Hilfe. Er wartet mit den anderen Jungs weiter vorne, dass ich Siegfried wieder auf die Beine bringe und raucht dabei entspannt ein Zigarettchen. Nur Felix unterstützt mich bei meinem Versuch, Siegfried zum Aufstehen und Gehen zu motivieren, indem er sächselnder Weise kluge Ratschläge und Geschichten aus seinem Leben zum Besten gibt. Damit kenne ich nun auch Felix‘ Eigenheiten – Aufmerksamkeitsdefizit!

Ich beschließe, dass Siegfried nicht verloren gehen kann, erkläre ihm, dass er einfach nur dem Weg folgen muss, um zur Jugendherberge zu kommen und lasse ihn dann sein Schläfchen mitten auf dem Weg machen. Tschüss Siegfried… Ich gehe weiter und fange mir empörte Blicke der Spaziergänger ein, die nun über Siegfried steigen müssen. Irgendeines meiner Argumente bringt ihn schließlich doch wieder auf die Beine und mit 20 Meter Abstand schlurft er murrend hinter uns anderen hinterher.

Erstaunlich, wie schnell Siegfried wiederbelebt ist, als es darum geht, das beste Bett im Zimmer zu sichern. Er hat da ganz konkrete Vorstellungen und fängt an zu plärren, als Felix das gleiche Bett beziehen will. Der plärrt genauso, dass er in keinem anderen Bett schlafen kann. Nach einer längeren Diskussion und dem Appell an den Klügeren, gibt Siegfried klein bei. Felix kriegt sein Bett, aber Siegfried schmollt dafür den restlichen Tag. Irgendwie kriegen wir auch die restliche Bettenverteilung in dem 8er Zimmer über die Bühne, ohne dass Blut fließt.

Das achte Bett ist für Rüdiger. Meiner Ansicht nach. Rüdiger sieht das anders. Er hat nicht vor, mit sieben kleinen Jungs das Zimmer zu teilen. Damit haben nun auch wir Betreuer Stress bei der Bettenverteilung, denn es gibt nur ein weiteres Zimmer mit zwei Betten. Das wurde so geordert, als die beiden Betreuer noch beide männlich waren. Was jetzt nicht mehr der Fall ist. Rüdiger hat keine Lust, bei den Jungs zu schlafen. Und ich habe keine Lust, mit einem Mann, den ich seit einem halben Tag kenne, drei Wochen lang das Zimmer zu teilen.

Nützt mir nichts. Wir teilen uns das Zimmer. Ich bin nicht  begeistert, aber wir schaffen es, in den kommenden drei Wochen einigermaßen unsere Privatsphäre zu wahren. Zum Glück stehen wenigstens die Betten weit auseinander. Die Betreuer der Berliner Kinderfreizeit, die zeitgleich mit uns da sind, hat es noch schlechter erwischt, die haben zwei Stockbetten und müssen sich das Zimmer mit zwei Frauen und einem Mann teilen. Aber sie scheinen sich schon länger zu kennen und sind auch jünger als wir.

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