Mit den Jungs auf Helgoland

Weil die Kindererholung von den Krankenkassen bezuschusst wird, muss ich mit den Kindern einmal pro Woche zum Inselarzt. Rüdiger kriegt während des Arztbesuches frei und will seine Bekanntschaft mit der süßen Kerstin ausbauen.

Als ich alle sieben Jungs ins Vorzimmer der Praxis bugsiert hab, ist die Hütte voll. Alles meine! Die Jungs stürzen sich gleich auf das Bonbonglas auf der Theke, Paul fragt aber vorher noch artig, ob sie dürfen. Sie dürfen, die Arzthelferin ist sehr nett und Paul spontan verliebt. Während wir im Wartezimmer warten, schwärmt er uns todernst vor, was für eine süße Zuckerschnecke die Arzthelferin ist – was die Zuckerschnecke hören kann. Der Paul!!!

Die ärztlichen Untersuchungen laufen bestens. Alle sind gesund und munter, die Atmung gut und auch die Haut der beiden Neurodermitiker Siegfried und Daniel ist schön. Felix kaut dem ahnungslosen Inseldoc gleich ein Ohr ab. Siegfried muss ich bremsen, dass er seine Finger von den medizinischen Gerätschaften lässt. Und der Doc stößt auf sprachliche Schwierigkeiten, als Meckerkönig Steve an der Reihe ist. Er schaut in die Mappe und sagt: „Du bist also Stief…“ Steve kriegt fast ne Schnappatmung. „Nein, Steve!“ – „Ja sag ich doch Stief.“ – „Nein Steve“, er ist den Tränen nahe, dass man seinen coolen Namen so verunglimpft. Ich dachte, die Leute von der Waterkant können alle ein spitzes „St“. Aber nein, unser Doc kann es nicht. Steve bleibt Stief.

Während ich den Arztkonsultationen beiwohne, zeigt mir der Doc wie ich die Atmung meiner Schützlinge abhören kann und erklärt mir am lebenden Objekt (Stief) worauf ich achten muss. Alldiweil leeren die bereits entlassenen oder noch wartenden Jungs weiter das Bonbonglas. Und Paul flirtet völlig ungeniert mit der süßen Zuckerschnecke alias Arzthelferin. Fragt sie treuherzig mit seinen großen Kulleraugen nach ihrem Namen und Alter und wo sie wohnt… Die anderen bekichern ihn dabei, scheinen ihn aber auch ein bisschen zu bewundern.

Bei der nächsten Arztkonsulation eine Woche später, wird das Bonbonglas gleich von der Theke genommen. Paul findet die Zuckerschnecke immer noch süß und fragt sie keck: „kennst du mich noch?“ Es muss an der guten Helgoländer Luft liegen, dass sich hier alle gleich verlieben.

Jeden Morgen nach dem Frühstück wird unser Betreuerzimmer für eine Stunde zur Krankenstube. Alle Jungs mit Asthma müssen 10 Minuten lang inhalieren. Jürgen und Paul haben ihre eigenen Pariboys dabei, die anderen wechseln sich an dem großen Inhalator ab, der bei uns im Zimmer steht. Siegfried ist der einzige, der nicht inhalieren muss, er hat „nur“ Neurodermitis und muss gut eingecremt werden. Nach dem Inhalieren, schnapp ich mir die Burschen, leg das Ohr auf ihren Rücken und kontrolliere ihre Atmung auf Rasselgeräusche. Alles in Ordnung.

Eines Abends steht Torsten völlig aufgelöst vor dem Betreuerzimmer. Seine Zahnspange ist weg. Ich denk mir nicht viel dabei, wird schon wieder auftauchen, in der Bettritze oder in den Tiefen seines kaputten Kleiderschranks… Wir helfen ihm alle beim Suchen, während Torsten immer panischer wird, dass er sie verbummelt hat. Anscheinend hat ihm seine Mutter sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass er großen Ärger bekommt, wenn er das teure Teil verliert oder kaputt macht. Immer mehr steigert sich Torsten in die Panik, bis seine Atemwege dicht machen und er nach Luft ringend im Raum steht.

Während die Beta-Mimetika des Asthmasprays die Bronchien schnell wieder weiten, sitzt der tränenüberströmte Torsten auf meinem Schoß und atmet erschöpft gegen die Lippen aus. Die anderen Jungen stehen betroffen um uns herum und versuchen Torsten zu trösten. Siegfried streichelt ihn sogar und schenkt ihm sein letztes Limopäckchen, was für Schleckermaul Siegfried eine ziemlich große Geste ist. Wenn er nicht gerade auf dem Asphalt herumliegt, kann er ein richtig lieber Junge sein.

Felix fühlt sich bemüßigt, Siegfried zu toppen und will Torsten seinen Elch Pupsi schenken. Nur Paul sucht weiter und wird fündig. Die vermaledeite Zahnspange steckt in einem Fach von Torstens Kulturtasche. Fast da, wo sie sein soll. Treuherzig hält ihm Paul das Plastikdings hin und sagt: „Schau, da ist sie, du musst nicht mehr weinen.“ Süßer Paul!

Weil Torstens Lungen nach dem Anfall ziemlich rasseln, tragen wir seine Matratze zu uns ins Betreuerzimmer. Damit ich ihn besser im Auge habe, schläft er die nächsten beiden Nächte bei uns.

Steve ist der zweite und glücklicherweise der letzte, der einen Asthmaanfall hat. Auch in diesem Fall ist emotionaler Stress der Auslöser. Steve hat sich nämlich genau wie Rüdiger und Paul verliebt!!! In die Tochter eines Gästepaares in der Jugendherberge. Und die scheint unseren kleinen Draufgänger auch recht cool zu finden. Jedenfalls hängen die beiden ständig  zusammen. Kaum ist er mit dem Essen fertig, fragt Steve artig, ob er zu Tanja gehen darf.

Jetzt haben die anderen Jungs Tanjas Abwesenheit genutzt, um Steve ein bisschen zu hänseln. „Steve ist verliiiehiebt!“ schreien sie und rennen um ihn herum. Das geht gar nicht! Dauermotzer Steve ist der Coolste und ein knallharter Bursche. Dass er aufgezogen wird, kann er überhaupt nicht ab. Als sie nach seiner Ansage nicht aufhören, tickt er total aus und stürzt sich auf den, der es am spaßigsten findet und am lautesten schreit – Felix.

Felix liegt unten im Staub und Steve prügelt auf ihn ein. Als ich die beiden voneinander getrennt habe, heult mir Felix laut ins Ohr und will, dass der böse Steve nach Hause geschickt wird. Steve mit hochrotem Gesicht will gleich wieder auf ihn losgehen. Ich schnapp ihn mir schnell und halt ihn fest. Das lenkt seine ganze Wut auf mich. Zappelnd und tretend versucht er sich loszureißen. Jetzt weiß ich, was die Berliner Betreuer mitmachen. Aber dann beginnt er zu japsen.

Auf meinem Schoß sitzt ein verängstigter kleiner Junge. Der knallharte Steve ist auch nur ein 8-jähriger Junge mit gesundheitlichen Problemen, egal wie gut er das mit seinem coolen Gehabe und Gemotze kaschiert. Während wir auf die Wirkung der Beta-Mimetika warten, heult Felix weiter rum, wie schlimm ihn Steve verhauen hat. Ich sag ihm, dass er sich nicht so anstellen soll. Wer andere provoziert, riskiert halt, dass er verkloppt wird. Felix ist tödlich beleidigt und zieht von dannen, um sich bei Rüdiger weiter auszuheulen. Das war nicht meine beste Ansage und über die Geschichte müssen wir noch reden. Aber nicht jetzt. Jetzt muss Steve zur Ruhe kommen.

Auch wenn man das nicht so sagen darf, etwas Gutes hat Steves Anfall, die Geschichte verbessert unser Verhältnis. Steve wird umgänglicher und hört mit dem Gemotze auf. Als seine kleine Liebschaft Tanja abreist, tauschen sie todtraurig die Adressen aus. Steve schenkt ihr zur ewigen Erinnerung einen kleinen Ring, den er mit Rüdiger in einem der Geschäfte erworben hat. Sooo süß!

Meinen dritten Einsatz als Krankenschwester hab ich bei Daniel und Siegfried. Nach dem Mittagessen klagen sie plötzlich über schlimmen Juckreiz. Ihre neurodermitische Haut ist total aufgeblüht. Vor allem den älteren Daniel hat es arg erwischt. Er ist dem Weinen nahe und kratzt sich blutig, weil es so juckt. Ich tröste so gut es geht und salbe Beiden die Arme und Beine ein. Dann informier ich den Koch, dass er unsere Sachen bitte wirklich nur salzen soll, sonst nichts. Ich befürchte, ich bin dabei etwas gereizt, wir reden jedenfalls ein paar Tage nicht mehr miteinander.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

* Datenschutzbedingungen akzeptieren