Mit den Jungs auf Helgoland

Dank unserer diversen Sponsoren dürfen wir kostenlos im Meerwasser Wellenbad baden. Aber das ist mir zu heikel. So richtig tolle Schwimmer ist keiner von den Sieben und immer wenn die Wellen einsetzen, gerate ich ins Schwitzen, dass uns einer untergeht. Schöner sind die Ausflüge zur Düne, einer vorgelagerten Sandbank, die nur per Boot erreichbar ist. Lustigerweise macht es den Jungs hier plötzlich Spaß, am Strand zu spielen und Burgen zu bauen. Nachdem sie sich gegenseitig mit der dicken weißen allergenfreien Sonnencreme (sponsert by Pharmakonzern) eingecremt haben, rollen sie sich anschließend im Sand. Jungs! Da sie nur Burgen bauen, aber keine Lust auf Baden haben, überlass ich sie Rüdigers Obhut, der ebenfalls keine Lust auf’s Baden hat. Ich aber! Denn weiter draußen hab ich den Kopf einer Kegelrobbe ausgemacht.

Neugierig kommt sie bis auf 10 Meter näher und wir umschwimmen uns gegenseitig, bis es mir irgendwann zu kalt wird. Ich war mit einer Robbe schwimmen!!!

Abends laden uns die Berliner zu einem bunten Abend mit Musik und Tanz im Gruppenraum ein. Da wird mir so richtig bewusst, was für ein krasser Unterschied zwischen unseren doch sehr wohlbehüteten Jungs und den Berliner Kindern besteht, die aus sogenannten „Problemfamilien“ kommen. Die Kinder haben keinerlei Ahnung von Dingen, die draußen passieren, Spielen, Fangen, Verstecken, Natur, Tiere, Menschen. Aber sie können das komplette MTV-Programm auswendig. Sie können nicht nur alle Lieder aus den Charts singen – obwohl sie kein Wort englisch sprechen – sie haben auch die Performance drauf.

Ich glaube, ich hab noch nie so fassungslos geschaut, wie in dem Moment, als Kerstin die Musik aufdreht und die Kids in zweier oder dreier Gruppen absolut perfekt Cotton Eye Joe, Lemontree, Scatman’s World und andere aktuelle Hits performen. Wieviele Stunden müssen sie vor dem Fernseher hocken, bis sie das so perfekt drauf haben?

Unsere Jungs können gar nichts zum Programm beitragen. Aber das macht nichts, jetzt sind es mal die Berliner, die etwas richtig gut können und von uns bewundert werden.

In der zweiten Woche bekommen wir Besuch von Ulrike. Sie ist in meinem Freundeskreis die einzige, die Interesse an der Helgoland Kindererholung hat und uns ein paar Tage besucht. Die Jugendherberge ist zwar ausgebucht, aber wir haben ja noch das freie Bett im Achterzimmer der Jungs, darüber dürfen wir nach Absprache mit dem Herbergsvater frei verfügen. Rüdiger sieht ein, dass wir Uli nicht zu den Jungs stecken können und tritt freiwillig sein Bett ab.

Die Jungs sind total aufgekratzt, als wir zum Hafen losmarschieren, um Uli in Empfang zu nehmen. Besuch finden sie cool. Sie fragen mir Löcher in den Bauch, wie alt Uli ist, wie sie aussieht, ob sie nett ist und überhaupt. Und sie mögen Uli. Es ist wunderbar, dass sie da ist. Alles ist viel leichter. Auch wenn Rüdiger und ich gut miteinander auskommen, fahren wir irgendwie nicht im gleichen Fahrwasser.

Am vorletzten Tag kommt auch mein Chef für einen Tag auf Stippvisite. Begeistert wuseln die Jungs um Rainer herum, erzählen ihm, was sie alles cooles auf Helgoland erlebt haben. Endlich hat Felix mal jemanden, den er vollsabbeln kann, ohne dass er weggeschickt wird. Mit langen Ausführungen führt er Rainer seinen Pupsi vor, den er bei der Inselrally gewonnen hat. Und Rainer gibt sich höflich interessiert.

Die Jungs sind so aufgedreht, dass ich wie ein Löwenbändiger in alle Richtungen Kommandos abgebe: Siegfried, geh mal einen Schritt schneller, Paul, hier lang, nein Siegfried, es wird sich nicht auf den Weg gelegt… Die beiden wildesten, Steve und Torsten haben beim Spaziergang auf dem Oberland die lustige Idee, dass sie sich ein bisschen im Gras herumwälzen könnten. Mit dem Erfolg, dass Steve wenig später mit kaninchenroten Augen vor mir steht und jammert.

Ich versorge ihn mit Augentropfen (ich hätte Krankenschwester werden sollen) und bringe sonst nur wenig Mitgefühl auf. „Wenn du gegen Gräserpollen allergisch bist und im Gras herumrollst, dann passiert das…“ Keine Ahnung, was Rainer über diese Ansprache denkt. Auf jeden Fall wirkt er etwas erschöpft, als er am Nachmittag wieder ins Börteboot einsteigt und zurückfährt.

Am nächsten Tag steigen auch wir mit Sack und Pack ins Börteboot. Tschüss du schönes Helgoland. Alle Kinder sind gut erholt und fröhlich und sie stinken. Keine Ahnung, wie das möglich ist. Obwohl ich ständig die Waschmaschine angestellt habe und sie jeden zweiten Tag duschen geschickt wurden, sind aus den Jungs kleine Stinker geworden. Vor allem Felix und Siegfried kann man näher als 2 Meter nur schwer ertragen. Und gerade die beiden sind besonders anhänglich. Siegfried hat während der Schifffahrt richtiggehenden Kuschelbedarf. Weil wir uns doch bald trennen müssen und weil es sooo schön war.

Ja, war es. Ich bin ehrlich traurig, als wir in Cuxhaven landen, wo die glücklichen Eltern ihre Jungs in Empfang nehmen. Felix und Siegfried legen gleich los und erzählen ohne Punkt und Komma, was sie alles erlebt haben. Ich frag mich, ob ihre Eltern die strengen Duftmarken der beiden wahrnehmen, oder ob sie das in der Wiedersehensfreude überriechen.

Wir winken den abfahrenden Autos hinterher und steigen dann zu Rainer ins Auto, der in Cuxhaven übernachtet hat und mich und Rüdiger nach Hause bringt.

Was für ein Sommer!

THE END

PS. Anhand der genannten Lieder aus den Charts habt Ihr vielleicht nachgerechnet, dass die Helgolandfahrt vor über 20 Jahren stattgefunden haben muss. Die Jungs (die Namen sind geändert) sind jetzt so um die 30. Ich wüsste zu gerne, ob Siegfried immer noch Nickerchen auf der Straße hält…

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