Steine & Gebeine – Der Indianer von Prad, Teil 1

Plötzlich taucht er aus dem Nichts zwischen den Himbeersträuchern auf und erklärt, dass er für den Besuch seines privaten Freiluft-Museums um eine Eintrittsspende von 1 Euro bittet. Dafür dürfen wir aber auch ein ganzes Jahr lang Fotos machen. Willkommen in der faszinierenden Welt des Südtiroler Indianers und Künstlers Lorenz Kuntner.

Clarissa hat die Reisekasse und bezahlt für mich mit. Sie hatte schon den ganzen Tag nach etwas Kultur verlangt: ein Schloss, ein Museum oder eine schöne Gartenanlage. Irgendwie hat sich auf unserer Reiseroute nichts finden lassen. Entweder war geschlossen oder der Hund verboten. Nun wurde ihr Wunsch endlich erfüllt: ein Obst- und Gemüsegarten mit ganz viel Kunst.

Gleich vorne in Prad, wenn man aus der Lombardei kommend die 48 Kehren des Stilfser Jochs hinter sich gebracht hat, leuchten einem die vielen buntbemalten Bachsteine von Lorenz Kuntner entgegen. Gesehen, gebremst und das Staunen beginnt.

Lorenz sagt, in ihm ist indianischer Geist. Der Prader Indianer – wie er von allen genannt wird – trägt einen Cowboyhut mit Federn und wirkt wie einer, der einfach gut drauf und mit der Welt zufrieden ist. Nachdem Clarissa bezahlt hat, fragt er nach unseren Namen und Clarissa fragt im Gegenzug nach seinem. Das hätten wir geklärt, nun sind wir per Du und dürfen uns alles ansehen. Auch Rossi the dog darf rein in Lorenz‘ Kunstausstellung. Tatsächlich interessiert sich der Hund sehr für die Kunst, denn Lorenz verarbeitet alles, was er findet: alte Metallteile, Holz, Steine…

und (was Rossi so fasziniert!) KNOCHEN!!!

Die Ausstellung ist voll mit den sterblichen Überresten verschiedenster Tiere. Unzählige Knochen und Skelettteile tanzen im Wind, mal hoch oben, mal in Bodennähe. Irgendwie makaber, aber als Teil des Lebenszyklus gleichzeitig auch natürlich und schön.

Als „Spender“ der großen Knochen vermute ich Kühe und frage Lorenz, wo er die ganzen Kuhknochen her hat, aber ich liege falsch, es sind Hirsch- und Rehknochen. Er sammelt im Wald alles ein, was er für „brauchbar“ befindet. Das Material für seine bunten Steingesichter muss er ja nicht weit tragen, die liefert ihm der Suldenbach, der direkt neben seinem Grundstück verläuft. Aber wie um Himmelswillen schleift er riesige Hirschskelette aus dem Wald raus? Meine Frage bleibt unausgesprochen und damit leider auch ungeklärt.

Lorenz macht das, was ihm Spaß macht: Gedichte schreiben, Kunst erschaffen. Was er zum Leben braucht, liefert ihm die Natur und sein Garten – und ein paar riesige Hennen, deren Stall zwischen den ganzen Kunstobjekten fast verschwindet.

Im Sommer kommen täglich tausende von Motorradfahrern und Touristen übers Stilfser Joch an seinem Haus vorbei. Viele bremsen genau wie wir neugierig ab, spenden einen Euro, um sein Reich besichtigen zu dürfen. In der halben Stunde, die wir in seinem Museum verbringen, kommen fünf oder sechs Neugierige. Die meisten gehen schnell einmal durch und sind dann wieder verschwunden. Reich wird er so nicht, aber so zufrieden und fröhlich wie er durch sein Reich spaziert, ist er reicher als ein König.

Einem Mann und uns widmet er mehr Aufmerksamkeit als den anderen. Dem Mann, weil er laut Lorenz überall seine „Griffel“ hat – den muss er im Auge behalten. Und mit uns mag er sich ein bisschen in seinem herrlichen Südtiroler Akzent unterhalten. Witziger Typ!

Lorenz bietet mir auch von seiner selbstgemachten Marmelade an, die er verkauft. Mich interessieren mehr die Steine. Die verkauft er auch. Manchmal. Ich glaube allerdings, dass er das von der Sympathie abhängig macht. Und er verkauft auch längst nicht jeden Stein. Mir scheint, nur die, die er nicht so gelungen findet oder die sich nicht in sein Gesamtkunstwerk einfügen.

Ich könnte mir aus den oberen drei Reihen der Straßenmauer…

… oder von dem großen Pult einen aussuchen. Oder auch mehrere. Der Preis richtet sich danach, wie gelungen er seine Steinmetzarbeit und die Bemalung findet – das geht von 10 bis 100 Euro. Die Steine mit den roten Nasen sind ihm die liebsten, das merkt man. Die kosten so 45-55 Euro.

Ich kann mich nicht entscheiden und fange dann an zu überlegen, wo ich meinen Stein überhaupt aufstellen soll. Einen eigenen Garten hab ich nicht und meine Küche ist schon mit meiner eigenen Steinsammlung komplett zugebaut. So entscheide ich mich gegen einen Stein und ärgere mich im Nachhinein wie Jule.

Gedichte schreibt er auch, der Lorenz. Er bringt sie im Eigenverlag heraus – Auflage 1.000 Stück. Sobald er alle verkauft hat, macht er sich dran, ein neues Buch in die Welt zu setzen – seine Worte! Sein letztes, siebtes Buch hat über 400 Seiten mit 200 Farbbildern seiner Kunstwerke und trägt den Titel „Abheben, um zu Entschweben“. Neben Gedichten hat er darin viele Sprüche, Weisheiten und Erkenntnisse festgehalten. Lorenz beschreibt seine Bücher als kleine Kunstgalerie, in der seine Werke auch für die Nachwelt erhalten bleiben.

Gegenüber auf der anderen Straßenseite steht Lorenz‘ Haus. Der Hof gehört mit zur Ausstellung und darf ebenfalls besichtigt werden. Die Hauswand und das Vordach hängen voll mit Geweihen. Clarissa hat Angst, dass davon was runterkrachen könnte und bleibt deshalb auf der sicheren Straßenseite im Garten.

Die Felswand neben dem Haus hat Lorenz durch rotweiße Felszeichnungen aufgehübscht.

Interessant wie unterschiedlich wir Lorenz‘ Kunstausstellung erleben. Ich bin der Besuchertyp: Augen- und Mund weit offen – irre! Vor allem die Steinköpfe und die Felszeichnungen haben es mir angetan. So was will ich auch! Am liebsten würd ich gleich zum Bach rennen, einen Stein holen und mit dem Bearbeiten anfangen. Ich fühl mich hier sauwohl.

Clarissa als Landschaftsarchitektin beeindruckt vor allem, wie die Kunst in den Gemüsegarten integriert wurde.

Und dass Lorenz es geschafft hat, die hässliche Straßenmauer als Teil des Gesamtkunstwerkes aufzuhübschen…

Wobei Clarissa die Steinköpfe, in die ich mich gerade verliebt habe, ziemlich gruselig findet. Sie verschwindet auch bald wieder aus dem Garten – sie fühlt sich von den vielen Gesichtern beobachtet. Dabei hatte ich ihr doch einen Steinkopf als Erinnerung an unsere Alpen-Abenteuerfahrt schenken wollen.